Halb digital ist doppelt ärgerlich – warum manche Rathäuser Digitalisierung noch immer bremsen

Verwaltung (über SolStock)
Verwaltung (über SolStock)

Deutschland hat kein Digitalisierungsproblem, es hat ein klares Umsetzungsproblem. Die Technik ist da, die Standards sind da, die Rechtsgrundlagen sind da – und trotzdem scheitert der Alltag vieler Menschen an Verfahren, die nur so tun, als seien sie modern. Das aktuelle Beispiel der digitalen Wohnsitzummeldung zeigt das Muster: Online-Antrag ausfüllen, Daten per AusweisApp verifizieren – und am Ende trotzdem persönlich aufs Amt. Halb digital heißt in der Praxis: zwei Wege statt einem.

Dabei ist die vollständig elektronische Wohnsitzanmeldung längst Realität. Der bundesweite OZG-Dienst „Elektronische Wohnsitzanmeldung“ ermöglicht Umzüge ohne Behördengang, inklusive digitaler Meldebestätigung und Adressaktualisierung auf dem Ausweis. Die Bundesregierung spricht von einem breit ausgerollten Verfahren, das Bürgern den kompletten Prozess online erlaubt.

Auch in Bayern ist der Dienst nach Abschluss der Pilotphase flächendeckend in die Nachnutzung gegangen – ausdrücklich mit dem Ziel, den Amtsbesuch überflüssig zu machen. Die Behauptung, nur „sehr wenige Kommunen“ nutzten das vollständig digitale Verfahren, wirkt vor diesem Hintergrund mindestens veraltet, so zumindest in einem aktuellen Beispiel aus der Verwaltungsgemeinschaft (VG) Kirchehrenbach im oberfränkischen Landkreis Forchheim.

Die Ausrede vom „wenigen Nutzen“ passt nicht mehr

Wer heute noch so argumentiert, als sei die volldigitale Ummeldung exotisch, ignoriert die Realität: Laut Bundesdigitalministerium sind inzwischen 16 Länder startklar, rund 2.000 Meldebehörden angeschlossen, und etwa 55 Millionen Menschen können ihren Wohnsitz online ummelden. Das ist keine Nischenlösung mehr, sondern ein bundesweiter Standarddienst.

Vor diesem Hintergrund klingt das „Kosten-Nutzen“-Argument wie ein Reflex aus einer Zeit, in der man Digitalisierung als nettes Zusatzprojekt betrachtete. Heute ist sie Pflicht – nicht, weil sie modern klingt, sondern weil sie Zeit, Geld und Personal spart. Nach FITKO-Angaben lassen sich durch elektronische Wohnsitzanmeldungen täglich bis zu 2.000 Behördengänge vermeiden. Wer trotz verfügbarer Einer-für-Alle-Lösung (EfA) am Präsenztermin festhält, entscheidet sich faktisch für mehr Aufwand auf beiden Seiten.

Warum die Erklärung der Verwaltung nicht überzeugt

Die Stellungnahme der VG Kirchehrenbach liefert ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man an der Sache vorbeiredet:

„Onlineverifizierung hat mit Sachbearbeitung nichts zu tun.“
Technisch mag das stimmen – praktisch ist es irrelevant. Der End-to-End-Dienst nutzt genau diese Verifizierung, um die Sachbearbeitung ohne persönliches Erscheinen rechtssicher abzuschließen. Wer daraus ableitet, der Termin sei weiterhin nötig, beschreibt nicht den Bedarf, sondern lediglich den aktuellen Zustand.

„Nur sehr wenige Kommunen nutzen das vollständig digital.“
Das widerspricht öffentlich einsehbaren Rollout-Zahlen und Länderberichten. Eine solche Aussage wirkt entweder veraltet – oder wie eine bequeme Relativierung, um Nicht-Handeln zu rechtfertigen.

„Wir prüfen mit dem Softwareanbieter, valide Auskunft noch nicht möglich.“
Auch das ist ein bekanntes Muster. EfA-Dienste sind gerade dafür geschaffen, dass Kommunen nicht bei null anfangen müssen. In Bayern kann die eWA-Nachnutzung über den DigitalMarkt ohne Zusatzentwicklung eingeführt werden. Wer Jahre nach Verfügbarkeit dennoch „zu wenige Informationen“ reklamiert, verzögert – er prüft nicht.

„Doppelter Aufwand ist der falsche Begriff.“
Wortklauberei ersetzt keine Nutzererfahrung. Für Bürger bleibt es doppelt: erst digital, dann präsent. Für die Verwaltung bleibt es doppelt: digitale Vorprüfung plus Terminverwaltung. Wenn der zweite Schritt vermeidbar wäre, ist jedes sprachliche Ausweichmanöver nur ein Symptom des Kernproblems.

Das größere Bild: Kommunale Trägheit als Strukturfehler

Die VG Kirchehrenbach steht dabei exemplarisch für ein bundesweites Muster. Deutschland verzettelt sich seit Jahren in halbdigitalen Prozessen: PDF-Formulare statt Online-Services, Terminpflicht trotz eID, ewige „Testphasen“. Das ist weniger eine Frage von Technik als eine Frage von Haltung.

Viele Verwaltungen sind träge, überlastet oder schlicht routiniert im „Weiter so“. Digitalisierung bedeutet Umstellung, Schulung, neue Abläufe – und damit Aufwand. Wer knapp arbeitet, entscheidet sich schnell für die kleinste Veränderung, die man „digital“ nennen kann. Das Ergebnis ist ein Verwaltungshybrid, der weder analog gut noch digital richtig ist.

Gerade kleine Kommunen verweisen gern auf ihre Größe. Doch EfA-Dienste sind genau für diese Konstellationen gebaut: zentral entwickelt, rechtssicher, kosteneffizient, nachnutzbar. Wenn selbst diese Lösung nicht gezogen wird, bleibt als Erklärung vor allem eines: fehlender Wille zur Umstellung.

Presseauskunft ist Teil der digitalen Reife

Transparenz ist keine Nebensache, sondern Grundvoraussetzung moderner Verwaltung. Wer Digitalisierung propagiert, muss bereit sein, Standards, Rollout-Zahlen und Entscheidungen nachvollziehbar zu erklären. Ausweichende Antworten oder Schweigen senden das gegenteilige Signal: eine Verwaltung, die Prozesse nicht gestaltet, sondern lediglich verwaltet. Besonders problematisch: Eine zentrale Nachfrage blieb trotz klarer gesetzlicher Auskunftspflicht unbeantwortet – ein Vorgang, der das Vertrauensdefizit eher verstärkt als abbaut.

Fazit

Halbdigitalisierung ist kein Fortschritt, sondern ein Umweg mit Etikett. Die elektronische Wohnsitzanmeldung ist bundesweit verfügbar, rechtlich abgesichert und millionenfach nutzbar. Wenn einzelne Kommunen dennoch am Vor-Ort-Termin festhalten, ist das keine Sachzwanglage – es ist eine Entscheidung. Und die zahlen am Ende die Bürger: mit Zeit, Wegen und Frust.

Digitalisierung soll Prozesse vereinfachen. Wer sie verdoppelt, hat den Auftrag nicht verstanden.

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