Ein Blindgänger, 21.000 Menschen, eine ganze Stadt auf den Beinen – Nürnbergs größte Evakuierung der Nachkriegszeit

Die Sprengmeister Heiko Büchl, Florian Süß und Michael Weiß (v.l.n.r). (über Andreas Schwarzmann/Stadt Nürnberg)
Die Sprengmeister Heiko Büchl, Florian Süß und Michael Weiß (v.l.n.r). (über Andreas Schwarzmann/Stadt Nürnberg)

Als am Freitagnachmittag, 14. November 2025, um kurz nach 15 Uhr die ersten Meldungen eingehen, ahnt noch niemand, dass Nürnberg wenige Stunden später die größte Evakuierungsaktion seiner Nachkriegsgeschichte erleben wird. In der Avenariusstraße 35, im Stadtteil Großreuth hinter der Veste, wird bei Bauarbeiten eine amerikanische Fliegerbombe entdeckt. 450 Kilogramm schwer, mit zwei Aufschlagzündern – und bewegt worden. Damit ist sofort klar: Diese Bombe muss noch heute entschärft werden.

Was folgt, ist ein logistisches Großprojekt, das die Stadt über Nacht vollständig verändert und 21.000 Menschen aus ihren Wohnungen holt.

Der Moment, der alles verändert

15:23 Uhr. Die Stadt Nürnberg veröffentlicht die erste Bestätigung: Blindgängerfund, Einsatzkräfte vor Ort. Wenige Minuten später steht der Evakuierungsradius fest – 800 Meter, dicht besiedelt, mit zahlreichen Altenheimen und medizinischen Einrichtungen.

Die nüchterne Zahl erschlägt dennoch: Bis zu 21.000 Bürger müssen das Gebiet verlassen.

Über 550 Einsatzkräfte sind da schon im Stadtteil unterwegs – Feuerwehr, Rettungsdienste, Polizei, THW, später unterstützt von umliegenden Landkreisen. In Summe werden es in dieser Nacht fast 1.500 Kräfte sein.

Ein Stadtteil leert sich

Ab 19 Uhr sperrt die Polizei die ersten Straßen, Lautsprecherwagen fahren durch die Viertel, die Warn-Apps NINA und Katwarn schlagen Alarm.

20:30 Uhr: Offizieller Start der Evakuierung.

Die Feuerwehr geht von Haustür zu Haustür. Wer nicht öffnet, bekommt ein Absperrband an die Tür – sichtbares Zeichen: kontrolliert, niemand mehr drin. Für viele ältere Menschen wird die Nacht unangenehm lang. In sieben Seniorenheimen müssen Patienten teils liegend aus dem Evakuierungsgebiet transportiert werden.

Im Berufsbildungszentrum am Berliner Platz entstehen Betreuungsstellen. Zuerst sind es knapp 700 Menschen, später über 1.000 – am Ende werden 2.400 Personen in den Hallen, auf Feldbetten oder Stühlen die Nacht verbringen.

Nürnberg steht still

Während der Evakuierung wird der Verkehr großräumig eingeschränkt. Buslinien fallen aus, U-Bahn-Stationen werden geschlossen, später wird der komplette Betrieb der U3 eingestellt. Die VAG stellt zehn Busse bereit, die Sammelpunkte anfahren. Ehrenamtliche bringen Decken, das BRK verteilt 900 Portionen Essen an die Einsatzkräfte.

Oberbürgermeister Marcus König und Schulreferentin Cornelia Trinkl besuchen gegen 22:45 Uhr die Betreuungsstelle – loben, danken, sprechen mit Betroffenen. Zu diesem Zeitpunkt ist klar: Die Stadt erlebt eine Ausnahmesituation, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gab.

Der lange Weg zur vollständigen Evakuierung

Die Zwischenstände, die fast im Minutentakt eintreffen, lesen sich wie der Ticker einer schlaflosen Stadt:

  • 23 Uhr: Abschnitt 2 und 5 sind zu 45 % geräumt.
  • 23:45 Uhr: Abschnitt 5 schafft 60 %.
  • 0:30 Uhr: Die Zahlen klettern, aber nur langsam.
  • 1:20 Uhr: Abschnitt 5 ist der letzte – bei 95 %.
  • 2:22 Uhr: Alle fünf Abschnitte sind zu 100 % evakuiert.

Nun erst dürfen die Sprengmeister an die Arbeit.

Die Stunde der Wahrheit

2:36 Uhr: Die Entschärfung beginnt. Der Luftraum wird gesperrt. Der U-Bahn-Betrieb im betroffenen Bereich ruht vollständig.

Drei Experten – Heiko Büchl, Florian Süß und Michael Weiß – arbeiten sich an den Zündern vor. Fast eine Stunde lang, hochkonzentriert, bei völliger Stille im und über dem Stadtteil.

3:35 Uhr: Die Nachricht, auf die Tausende warten: „Der Blindgänger ist entschärft.“

Nürnberg atmet auf

Noch während viele Einsatzkräfte die Fundstelle sichern, rollen die ersten Busse zu den Senioreneinrichtungen. Die Bewohner, die teils seit 18 Uhr außer Haus sind, kehren zurück.

Um 3:40 Uhr meldet die Stadt: „Die Bewohner können wieder zurück in ihre Wohnungen.“ Das Bürgertelefon, das über Stunden mehrere Hundert Anrufe pro Apparat erhalten hat, wird abgeschaltet.

Die Nacht ist still. Die Stadt wirkt erschöpft – aber erleichtert.

Ein Einsatz, der bleibt

1.500 Helfer, 21.000 Evakuierte, eine 450-Kilo-Bombe, sieben Stunden Ausnahmezustand. Dieser Einsatz zeigt nicht nur die Größe der Herausforderung, sondern auch, wie stark eine Stadt sein kann, wenn es darauf ankommt. Nürnberg hat diese Nacht gemeinsam gemeistert – mit Geduld, Einsatz, Organisation und bemerkenswerter Ruhe.

Eine Nacht, die in Erinnerung bleibt.

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