Länger schuften für wen? Die Arbeitszeitdebatte ist ein Schlag ins Gesicht der Werktätigen

Industrie (über FURKAN GÜNEŞ)
Industrie (über FURKAN GÜNEŞ)

Seit dem Vorstoß der CDU-Bundesministerin für Wirtschaft und Energie Katherina Reiche ist die alte Debatte um längere Arbeitszeiten zurück – in einer Zeit, in der viele Menschen schon heute am Limit arbeiten. Der Ruf nach einer späteren Rente und einer längeren Wochenarbeitszeit wirkt dabei nicht nur aus der Zeit gefallen, sondern auch zutiefst wirklichkeitsfremd.

Realitätscheck statt Elitendebatte

Die Realität der Arbeitswelt sieht anders aus als in den Büros der Berliner Ministerien. Carlos Seefeld, Müllwerker bei der Berliner Stadtreinigung, bringt es auf den Punkt:

„Wer in diesen Zeiten vom späteren Renteneintritt spricht, kann nur aus einem Beruf kommen, in dem nicht körperlich gearbeitet wird! Ich lade Frau Reiche gerne auf eine Mülltour ein!“

Wer täglich bei Wind und Wetter schuftet, hat keine Lust auf belehrende Sonntagsreden aus den Chefetagen. Auch Manuel von Stubenrauch, Straßenbahnfahrer bei der BVG, warnt eindringlich vor einer Debatte, die die Menschen selbst vergisst:

„Jede Diskussion über längeres Arbeiten muss beim Menschen beginnen – bei seinen realen Lebens- und Arbeitsbedingungen, nicht bei abstrakten Vorstellungen der Politik.“ Und weiter: „Wer jahrzehntelang zum Funktionieren des Systems beigetragen hat, verdient einen Ruhestand in Würde – mit ausreichend Zeit für Erholung, Familie, Hobbys und gesellschaftliches Leben.“

Sorgearbeit unsichtbar gemacht

Feline Tecklenburg, Mitgründerin der Initiative „Wirtschaft ist Care“, kritisiert die einseitige Fixierung auf Erwerbsarbeit:

„Nur durch die Unmengen an unbezahlt geleisteter Sorgearbeit kann in Deutschland gewirtschaftet werden.“ Weiter: „Eine längere Erwerbsarbeitszeit zu fordern, ignoriert die Unsummen an unbezahlter Sorgearbeit, die schon jetzt vielen Menschen mit Sorgeverantwortung bis zu 80 Stunden Arbeitswochen bescheren.“

Die Rede von mehr „Wohlstand durch Arbeit“ blendet die Millionen Frauen und Männer aus, die im Stillen das Funktionieren unserer Gesellschaft sichern – unbeachtet, unbezahlt und ungeschützt. Wer Sorgearbeit entwertet, zementiert Geschlechterungleichheit und soziale Spaltung.

Mehr Produktivität – weniger Zeit für wen?

Florian Wilde, Gewerkschaftsreferent in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bringt eine zentrale Wahrheit auf den Tisch:

„Eine Verlängerung der Arbeitszeit bei ständig steigender Produktivität insbesondere im beginnenden KI-Zeitalter weist in die völlig falsche Richtung: Die Arbeitszeit müsste eigentlich schon seit vielen Jahren kontinuierlich sinken.“ Und weiter: „Gleichbleibende oder gar verlängerte Arbeitszeiten steigern nur die Gewinne der Kapitalseite und verstärken damit das Anwachsen der großen Vermögen und eine soziale Ungleichheit, die mittlerweile die Demokratie bedrohende Ausmaße angenommen hat.“

Fazit: Die Arbeitszeitdebatte ist eine Machtfrage

Die Forderung nach längerer Erwerbsarbeit folgt einem überholten Dogma: mehr Stunden = mehr Wohlstand. Doch dieser Wohlstand kommt nicht bei denen an, die ihn täglich erarbeiten. Stattdessen steigen Profite und Ungleichheit – auf dem Rücken derjenigen, die schon jetzt kaum Zeit zum Leben haben.

Eine gerechte Arbeitszeitpolitik muss die Realität der Beschäftigten, die Bedeutung unbezahlter Arbeit und den technologischen Fortschritt ernst nehmen. Alles andere ist nicht nur wirtschaftlich kurzsichtig, sondern sozial brandgefährlich.

Anzeige

Über Redaktion | cozmo news 3271 Artikel
cozmo news ist die Zentralredaktion hinter dem Nürnberger Blatt, Hamburger Blatt, Stuttgarter Blatt, Münchener Blatt und Fränkisches Blatt. Als unabhängige digitale Nachrichtenplattform bereiten wir aktuelle, relevante und hintergründige Themen für unsere vielfältige Leserschaft auf. Unsere Redaktion verbindet journalistische Qualität mit innovativen Erzählformen – klar, ehrlich und nah am Puls der Zeit.

Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

Jeder Kommentar ist willkommen. Bitte beachte: Um die missbräuchliche Nutzung der Kommentarfunktion (Hassrede, Hetze, Spam, Links u. Ä.) zu verhindern, musst du deinen Klarnamen (bestehend aus Vor- und Nachname) und deine E-Mail-Adresse (E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht) angeben. Sobald dein Kommentar geprüft wurde und dieser nicht gegen die Netiquette verstößt, wird er durch die Redaktion freigeschalten und veröffentlicht.