Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Sein Inkrafttreten markiert gleichzeitig die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland als freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat. Prof. Dr. Christoph Safferling, Inhaber des FAU-Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht, zieht Bilanz nach 75 Jahren: Hat sich das Grundgesetz bewährt?
Ist das Grundgesetz auch nach 75 Jahren in guter Verfassung?
Christoph Safferling: „Ich denke schon, dass man das Jubiläum nicht nur feiern darf, sondern sogar muss. Wir haben mit dem Grundgesetz eine sehr stabile, verlässliche, liberale und demokratische Rechtsstaatsordnung, auf die wir stolz sein können. Das Grundgesetz hat nicht nur Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht geschaffen, die verlässlich arbeiten und dazu beitragen, dass die Gesellschaft zusammengehalten wird. Mit den Grundrechten hat es auch für eine Wertegrundlage gesorgt, die ein friedliches, pluralistisches liberales Zusammenleben möglich macht.“
War es bereits in den Anfangsjahren absehbar, dass das Grundgesetz zur Erfolgsgeschichte wird?
Christoph Safferling: „Bei der anfänglichen Diskussion um die neue Verfassung für Deutschland wurde immer betont, dass es sich beim Grundgesetz nur um ein Provisorium handelt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten die Vorstellung, dass es für eine Übergangszeit bis zu einer hoffentlich stattfindenden Wiedervereinigung Gültigkeit besitzt. Aber das Grundgesetz hatte nie einen bloßen provisorischen Charakter. Es hat von Beginn an eine vollfunktionsfähige Staatlichkeit und Werteordnung geschaffen.“
Das Grundgesetz ist als eine deutliche Reaktion auf die zwölf Jahre Nationalsozialismus und die damit verbundene völlige Katastrophe nicht nur militärischer, sondern auch zivilisatorischer Art. Es hat mit seinem Artikel eins „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ direkt am Anfang eine klare Werteausrichtung vorgegeben. Zugleich hat es Abstand genommen von jeglicher zentralistischen Vorstellung. Vielmehr hat es eine föderale Struktur geschaffen, wie wir sie bis heute kennen und schätzen, so der Rechtsexperte.
Blicken wir in die Gegenwart: Wir müssen eine erstarkte radikale Rechte im Land erleben, stehen vor Wahlen, in denen große Erfolge für die AfD prognostiziert werden. Kann das Grundgesetz auch 2024 Garant für eine stabile Demokratie sein?
Christoph Safferling: „Daran besteht für mich kein Zweifel. Aus meiner Sicht ist das Grundgesetz unangefochten. Wir leben in einer Zeit multipler Krisen – innerstaatlich, auf europäischer Ebene und weltweit. Wir haben diese bislang ganz gut gemeistert, aber die vielen Streitigkeiten kratzen am Vertrauen in die Politik. Die Grundidee der repräsentativen Demokratie und weltoffenen Gesellschaft wird in Frage gestellt. Doch das Grundgesetz ist stark genug, um mit rechtsstaatlichen Mitteln die freiheitlich demokratische Grundordnung zu verteidigen. Heute gibt es Schwerpunktstaatsanwaltschaften und auch bei der Polizei entsprechende Spezialstellen, die beispielsweise Hassrede oder Antisemitismus aktiv verfolgen. Das kann unser Rechtsstaat leisten auf Basis des Grundgesetzes. Wir müssen aber die Politik in die Verantwortung nehmen, dass sie die Werte, die sich hier verkörpern, auch immer wieder vermitteln, erklären und Vertrauen schaffen. Das gelingt gerade nicht immer.“
Ist auch das Grundgesetz gefordert? Wo sehen Sie Schwachstellen und Reformbedarf, um unsere Verfassung an die Erfordernisse der Zeit anzupassen?
Christoph Safferling: „Das Bundesverfassungsgericht ist im Grundgesetz nur unzureichend geregelt. In der aktuellen politischen Gemengelage besteht die Gefahr, dass dessen Arbeit blockiert wird, wenn die AfD in Länderparlamenten oder auf Bundesebene noch stärker wird und wiederum die Wahl der Richterinnen und Richter blockiert. Das sollte man in den Blick nehmen und überlegen, welche Sicherungsmechanismen in das Grundgesetz eingefügt werden können, um das Bundesverfassungsgericht auch in solch einer Situation arbeitsfähig zu erhalten.“
Der Rechtsexperte weiter: „Was ebenfalls ein Punkt sein kann: Weil wir darauf bedacht sind, möglichst immer alle Belange miteinzubeziehen, sind die Entscheidungsstrukturen mitunter sehr langwierig. Man sollte darüber nachdenken, ob man nicht im Grundgesetz bestimmte Wertevorstellungen verstärkt. Ein Beispiel ist der Klimaschutz. Würde diesem im Grundgesetz Priorität eingeräumt, könnte man entsprechende Entscheidungen schneller herbeiführen. Man muss sich bewusst machen, dass sich die Interpretation der Grundrechte wandelt. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Unsere Verfassung ist dynamisch und immer auch gesellschaftlichem Wandel unterworfen.“
Rückgrat des Grundgesetzes sind die Grundrechte, deren Katalog eine ganze Reihe allgemeiner Menschenrechte enthält. Sind die entsprechenden Formulierungen nach wie vor zeitgemäß, um Antworten zu geben auf die drängenden Probleme und Herausforderungen für den Menschenrechtsschutz?
Christoph Safferling: „Ich denke schon, dass das Grundgesetz bis heute durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Flexibilität und Dynamik beweist, um aktuellen Probleme, die es im Grundrechtsschutzbereich gibt, auch gut lösen zu können. Denken wir beispielsweise an den Schutz der Privatsphäre auch in Sachen IT-Sicherheit und Cyberkriminalität. Im Text des Grundgesetzes ist nur ganz allgemein vom Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Rede. Was sich dahinter verbirgt, hat die Rechtsprechung entwickelt. Da sind wir wirklich auf einem guten Stand. Man sieht es dem Text im Grundgesetz nur nicht mehr an. Man könnte deshalb natürlich darüber nachdenken, entsprechende Änderungen zu machen und den Text etwas moderner zu gestalten. Das wäre vielleicht auch ein Signal, zwingend notwendig ist es nicht.“
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